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Die Idee, Anna Roth zu sein ist GESTERN - Kalmaris ist HEUTE |
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Abea Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, jetzt vor allem in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es ideal. Ich bin mir trotzdem nicht sicher. Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht. Ich leite ihn zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hat. Ich ahne, was wirklich war, und ich gebe zu, genau wie er, sträube ich mich gegen die Wahrheit.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie trugen die Erfahrungen ihrer langjährigen überlegenen Demokratie in das Land dieses Diktators. Klar, wenn man auf sie schoss, dann mussten sie für Ordnung sorgen. Dann mussten sie schon einmal Waffen einsetzen, die alle potentiellen Mörder und Terroristen mit Splittern und Strahlen für immer handlungsunfähig machten. Dann entstanden schon einmal Berge zerstückelter und zerstrahlter Menschenteile, die sie so nicht liegen lassen konnten. Schließlich brachten sie Ordnung ins Land. Diesmal führte er den Schutzanzug durch das Feld, um die Eingeborenen zu Haufen zusammenzukarren, die umweltverträglich verbrannt werden konnten. Da entdeckte er sie. Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel hätten kein Zucken übrig lassen dürfen. Doch diese Augen sahen ihn an. Sie waren groß und dunkel wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie sahen ihn an, als wollten sie sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterbury? War er das Gespenst, das gerettet werden musste? Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog sie aus dem Körperberg hervor. Sie war wirklich ganz. Verschwitzt, ja. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandigen schwarzen Kraushaar halb verdeckt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es ihre bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Nur in seinen Augen war noch Leben. Für einen Moment wollte er das Kind zu dem restlichen Haufen stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen. Was für ein Unsinn! Er dachte an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte, er dachte, das Mädchen hat auch einen Namen, und ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“ Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – wie sollte dieses Mädchen deine Sprache verstehen? Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“ Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm mit einem dumpfen Puffen Flammen den anderen Körpern Gnade erwiesen.
Sie war über eine Schwelle getreten. Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie irgendwo lag und sich nicht bewegen konnte. Da empfahl sich Abea ihrem Gott. Um sie herum stank es fürchterlich. Doch niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können. Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen. Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb. Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das war. ES fragte etwas, was bedeuten konnte, ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm SEINE Worte und ergänzte ihren Namen. Abea zögerte. Sie wollte ES fragen, wie ES hieße, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel, der sich schnell im Kreis drehte. Woran merkte sie das nur, wo doch ihr Himmel keine Sonne hatte, keinen Mond, ja nicht einmal Sterne?
„Ich kann Ihnen das nicht erklären. Glauben Sie mir. Ich würde gern, aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Die meisten Zellen ihrer Abea sind radioaktiv aufgeladen. Aber sie strahlen nicht nach außen. Und das Seltsamste: Ich kann bisher keinerlei krankhafte Veränderungen feststellen.“ „Bitte, Herr Doktor, reden Sie Klartext! Wie lange hat sie noch zu leben?“ „Das kann ich einfach nicht sagen. Der Strahlenbelastung nach wäre sie längst tot, von der Wahrscheinlichkeit her muss also irgendwann die Strahlenkrankheit bei ihr ausbrechen. Ihnen bleibt dann nur übrig, der Kleinen die Leiden zu mildern.“ „Sie finden unsere Idee also verrückt?“ Der alte, bedächtig sprechende Chefarzt der Spezialklinik vermied es, den künftigen „Eltern“ Samantha und Samuel Mc Fadden in die Augen zu sehen. „Bitte fragen Sie mich nicht so! Aber ... ich an Ihrer Stelle würde mir das alles noch einmal gründlich überlegen.“ In diesem Augenblick ging die Tür auf. Für einen winzigen Moment stand Abea abwartend da, die Klinke in der Hand, die dunklen Augen funkelten Sam an. Dann flog sie ihm entgegen, als hätte sie einen kräftigen Tritt bekommen. Sie landete auf Sams Schoß, und ihre Arme zogen Samanthas Kopf zu sich heran, drückten ihn und krabbelten mit den Fingern durch die Haare, als suchten sie wenn schon nicht Läuse so doch wenigstens Wüstensandkörner darin. „So lange es geht, lebt Abea als unser Kind.“ Und das Kind warf dem Mann in dem Kittel einen trotzigen Blick zu. „So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, wiederholte es störrisch. Auf der Straße in die Kleinstadt, dort, wo man mehr als fünf Achtel des Himmels über sich sah, sagte Sam bedächtig, als wäre die philosophische Erkenntnis der Welt über ihn gekommen: „Samantha, heute leben wir.“
Es war schon ein seltsames Gefühl. Zur Schule gehen. Mit Kindern, die hier groß geworden waren, die alle Wörter kannten, die fremden Dinge, die sie bezeichnen sollten, ja, die sogar genauso aßen wie ihre Nachbarn. „Sag, ich heiße Abea!“ Das hatte ihr Sam erklärt, den sie jetzt Dad nennen sollte. So hatte sie auch gesagt, als sie allein mit der Lehrerin da vorne stand. Trotzdem hatten viele gelacht. Vielleicht hatte sie die Laute nicht richtig ausgesprochen. Wie hatte sie sich gefürchtet. Erst wurde sie von Mrs. Widerman aufgefordert, sich neben den Mathew mit der dunkel glänzenden Haut zu setzen, dann plötzlich gerufen: „Abea, komm mal nach vorn, zeig mal, was du im Rechnen schon kannst.“ Mrs. Widerman hatte gewinkt, so dass Abea erkannte, dass vorn dort war, wo die anderen Kinder hinsahen, wenn sie sich nicht gerade feixend wie jetzt zu ihr umdrehten. Mrs. Widerman fragte immer so boshaft, so, als wäre völlig klar, dass Abea nicht wissen konnte, wie viel zwei plus drei wäre. Aber sie dachte dabei fünf, so dass Abea laut „Fünf!“ sagte, und auch als die Aufgaben schwieriger wurden, dachte die Lehrerin immer an die Lösung, die Abea nur laut zu wiederholen brauchte, selbst dann, als sie etwas an der Tafel Verstanden hatte Abea nicht viel, aber weil alle ihre Antworten richtig gewesen waren, galt sie von nun an als Rechenass. Rechnen war auch leichter als die fremde Sprache zu erlernen, wo man so viele Worte mit so vielen Bedeutungen behalten musste, und David, der immer am lautesten dachte, formulierte so viele falsche Sätze. Abea lernte schnell. Trotzdem war sie sehr traurig. Mathew hatte immer solche Angst vor dem Unterrichtsschluss. Sie fragte ihn, warum er nicht mit den anderen loslaufe. „Lass mich in Ruhe“, antwortete er abweisend. Aber da sammelten sich Hobbes und dessen Gang vor Mathew, und sie schlugen auf den kleinen schwarzen Jungen ein. Überrascht und hilflos stand Abea daneben. In der nächsten Pause jedoch stellte sie sich vor Hobbes hin. „Warum lässt du Mathew nicht in Ruhe?“ Die anderen aus der Klasse bildeten einen Kreis um sie. Hobbes grinste. Sein Gedanke kam genauso schnell oder langsam wie seine Worte: „Weils einfach Spaß macht. Aber wir können ja auch dich nehmen.“ Fast alle lachten. Nur Benny stand in der Ecke und dachte, Mädchen schlägt man doch nicht. Er fürchtete sich, das laut zu sagen. So war Abea am Schluss der letzten Stunde auf ihn zugegangen, hatte ihn an der Hand genommen und war mit ihm schweigend durch die Gasse der verwirrten restlichen Jungen geschritten. „Schwarze Hexe!“, rief Hobbes. Aber Abea hätte nicht sagen können, ob das abschätzig oder doch etwas anerkennend gemeint war.
Aus der kleinen Schule von Louisville hatten sieben Jungen ihr geregeltes Einkommen in der Armee gefunden. Sie alle überstanden das Abenteuer Krieg lebend. Doch nur wenige Wochen, nachdem sie wieder im Stützpunkt Charlottsville zurück waren, sahen die Jungs fast täglich ausgemergelter aus. Mit Beginn von Abeas nächstem Schuljahr lebte nur noch Sam. Plötzlich war der Sold nicht mehr so wichtig. Denn, wenn Sam sich morgens zu seinen beiden Frauen vor seinem kleinen Haus umdrehte, dann freute er sich auf den Abend. Im Drugstore hatte Samantha den Eindruck, als brächen alle Gespräche ab, kaum, dass sie zur Tür herein kam. „Sam, ich habe den Eindruck, die warten richtig darauf, dass du endlich stirbst.“ „Aber Samantha! Glaub mir, da können sie lange warten.“ Trotzdem karrte er seine ganze Familie zu Burklands Spezialklinik. Der Chefarzt begrüßte sie zum Auswertungsgespräch mit einem entspannten Lächeln. „Ich weiß um die anderen. Schwamm drüber. Sie sind so gesund wie eh und je. Und was ihre Abea angeht: Es hat sich nichts verändert. Alle Werte wie damals. Was soll ich sagen? Die Katastrophe kann unmittelbar vor der Tür stehen, aber da so lange nichts war, hätte ich genau wie Sie Hoffnungen auf ein glückliches Ende.“ Sie wollten schon aufstehen, da lächelte der alte Arzt richtig spitzbübisch. „Ach ja, Mister Mc Fadden. Ihre Frau meinte, aus meinem Mund glauben Sie es am ehesten: Rechnen Sie mit einem ersten eigenen gemeinsamen Nachwuchs. Für Sie wird scheinbar alles Unmögliche möglich.“
Sam und Samantha bemerkten in ihrem erwartungsvollen Glück die Angst in Abeas Augen nicht. Auf das Schwesterchen freute sie sich. Die Mum war ganz anders, wenn sie, Abea, an ihrem Bauch horchen wollte, was denn das Kleine darin so empfinde. Stundenlang hätte Samantha dem Mädchen zuhören mögen, wenn es so lustig die angeblich gerade erlauschten Gedanken des künftigen Schwesterchens nacherzählte. Nein. Das war es nicht. Aber die Klasse hatte sich verändert. Hobbes hatte nichts mehr zu ihr gesagt und ihr auch nichts getan. Sie war ihm aus dem Weg gegangen. Aber das, was sie an Gedanken aus seinem Kopf hörte, quälte sie. Was konnte sie denn dafür, dass sein Dad von dort unten die tödliche Krankheit, ihrer dagegen sie mitgebracht hatte? Dann merkte sie, dass sie immer mehr Mitschüler mieden. Wie ein Fähnchen zog sie den Titel „Schwarze Hexe“ hinter sich her. In ihrer Gegenwart sprach ihn niemand aus, aber das war vielleicht noch schlimmer: nicht nur zu ahnen, sondern aus den zurückgebliebenen Gedanken der anderen zu lesen, dass sie in ihrer Abwesenheit gerade über sie hergezogen waren. Kontakt ... oder sind Sie nicht interessiert, wie es weitergeht?
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